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Radio-Bremen-Interview mit Michael Schmidt-Salomon (gbs)

„Deutschland fußt heute nicht mehr auf christlich-jüdischen Werten…

Die Debatte in Deutschland über Integration und die Multi-Kulti-Gesellschaft läuft ungebremst! Dabei wird über Muslime, Christen und Juden gesprochen – über die Menschen ohne Konfession spricht kaum jemand. Das kritisiert die Giordano-Bruno-Stiftung. Funkhaus Europa fragte nach.

  • Autor/-in:Reza Vafa im Gespräch mit Michael Schmidt-Salomon
  • Länge:4:10 Minuten
  • Datum:Dienstag, 19. Oktober 2010
  • Sendereihe:Nova | Funkhaus Europa“

Audio-Aufzeichnung: http://www.radiobremen.de/funkhauseuropa/sendungen/nova/audio43160-popup.html

Transkription von W. Klosterhalfen:

Michael Schmidt-Salomon:

Zunächst einmal ist es ja wichtig, dass die Politik auch das widerspiegelt, was in der Bevölkerung gewünscht wird. Und es ist nun mal ein Faktum, dass die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe die Konfessionsfreien sind. Und das ist auch die größte Bevölkerungsgruppe. Es gibt ja mittlerweile mehr konfessionsfreie Menschen hier in Deutschland, als es Katholiken gibt. Es sind ungefähr 34,7 %, während die Katholiken bei 29,7 stehen und die evangelischen Christen bei 29,6. Und pro Jahr werden´s 0,4 % mehr, d.h. wir werden irgendwann in den nächsten 10, 15 Jahren die Situation haben, dass die Hälfte der Deutschen keiner Religion mehr angehört. Und dann ist es natürlich problematisch, wenn ein Großteil der sozialen  Institutionen in kirchlicher Hand sind. Und natürlich ist es auch problematisch, dass die Religionen solche Privilegien hier in Deutschland genießen, dass von allgemeinen Steuergeldern Bischöfe bezahlt werden u.s.w..

Reza Vafa:

Konservative und Kirchenvertreter sagen, Deutschland fußt mit seinen Werten immer noch auf dem Judentum und auf dem Christentum. Auf welchen Werten fußt Deutschland denn ihrer Meinung nach?

Michael Schmidt-Salomon:

Also der deutsche Rechtsstaat fußt wie jeder Rechtsstaat weltweit auf den Werten von Humanismus und Aufklärung. Diese Werte der Demokratie, der individuellen Selbstbestimmung entstammen ganz sicher nicht dem Christentum, sondern mussten in einem doch sehr erbitterten Emanzipationskampf über Jahrhunderte hinweg gegen die Machtansprüche der Kirchen erstritten werden. Deswegen ist diese Formulierung sehr, sehr zweifelhaft, dass wir hier diesen Rechtsstaat dem Christentum zu verdanken haben. Und die Formulierung „jüdisch-christlich“ ist noch problematischer, denn über Jahrhunderte hinweg hatten Christen leider nichts Besseres zu tun gewusst, als jüdische Mitbürger zu diskriminieren oder gar zu lynchen.

Reza Vafa:

Warum beharren denn ihrer Meinung nach Politiker aus dem Unionslager darauf, dass Deutschland auf christlich-jüdische Werte fußt?

Michael Schmidt-Salomon

Zum Teil kann das liegen an Unwissenheit, zum Teil ist es sicherlich aber auch eine politische Strategie. Immerhin sind die Kirchen ja die größten nicht-staatlichen Arbeitgeber Europas.

Reza Vafa:

Heißt das denn ihrer Meinung nach, die Freiheit der Meinungsäußerung, also die Frage z.B. nach der sexuellen Selbstbestimmung, Gleichberechtigung von Mann und Frau: das sind überhaupt keine christlichen Errungenschaften?

Michael Schmidt-Salomon:

Wo denken Sie hin? Diese Werte galten ursprünglich als zutiefst unchristlich. Päpste, Bischöfe, Theologen, aber auch Vertreter anderer Religionen haben bis ins 20. Jahrhundert hinein die Menschenrechte kritisiert als gotteslästerliche Anmaßungen des Menschen. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau: die katholische Kirche hat sehr stark sich bemüht, diesen Verfassungsgrundsatz zu verhindern. Und wenn wir uns anschauen, die sexuelle Selbstbestimmung ist natürlich sehr problematisch für Religionsvertreter noch heute. Als wir noch einen christlichen Wertekonsens hier in Deutschland hatten, wurden 100.000 Strafverfahren gegen homosexuelle Menschen bis in die 60er, 70er Jahre hinein angestrengt. Das hat dann tatsächlich eine Kulturrevolution gewissermaßen gebraucht, dass diese ganzen Unzuchtsparagraphen dann Mitte der 70er Jahre aus unserem Strafgesetz verbannt wurden. Es war ja so: bis 1974 war Kuppelei beispielsweise ein Strafrechtstatbestand. Selbst wenn man einem verlobten Pärchen ne Wohnung überlassen hat, dann hat man Förderung von Unzucht betrieben. Glücklicherweise sind diese Zeiten der religiösen Bevormundung vorbei.

Reza Vafa:

Wir brauchen jetzt also ne neue Leitkultur, glauben Sie?

Michael Schmidt-Salomon:

Wir haben schon eine neue Leitkultur. Das ist eben die Leitkultur „Humanismus und Aufklärung“. Es geht ja nicht dadrum, dass man Muslimen abverlangt, dass sie den Rosenkranz beten oder Schweinshaxe essen. Es geht darum, dass sie sich an die Werte des Zusammenlebens in einer modernen, offenen Gesellschaft halten wie alle anderen Menschen auch. Das muss man auch der katholischen Kirche abverlangen. Sie dürfte nicht das Recht haben, ne Krankenschwester zu entlassen, nur weil sie einen geschiedenen Mann heiratet.

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Michael Schmidt-Salomon bei Maybritt Illner (Zusammenschnitt, 14.10.2010, ZDF):